Ein Essay von Petra Winkler über verlorene Ideale, abgesenkte Maßstäbe – und die dringende Notwendigkeit, wieder mehr Aufklärung zu wagen.
Der Anfang: Bildung als Aufbruch
Es begann mit einer Idee. Nicht mit Geld, nicht mit Macht – sondern mit dem Glauben an die Kraft der Vernunft. Als im Europa des 18. Jahrhunderts das Licht der Aufklärung durch das Dickicht der Unwissenheit und der religiösen Dogmen bricht, fordern Philosophen, was bis dahin als gefährlich galt: Dass der Mensch selbst denkt. Dass er sich bildet, dass er zweifelt, dass er hinterfragt – und dass er sich auf diese Weise befreit.
Bildung ist in dieser Zeit kein bloßes Mittel zum Zweck. Sie ist ein Akt der Selbstermächtigung. Wer liest, wer rechnet, wer begreift, kann sich emanzipieren – aus der Armut, aus der Abhängigkeit, aus der Bevormundung. Immanuel Kants Appell „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ hallt weit über sein eigenes Jahrhundert hinaus. Im 19. Jahrhundert findet Kants Appell dann Widerhall in der entstehenden Arbeiterbewegung.
Früher: Der Wille zum Wissen
Als die ersten sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen im 19. Jahrhundert entstehen, greifen sie den Aufklärungs- und Bildungsgedanken auf. Ihnen ist bewusst, wie wichtig es ist, dass Arbeiter das nötige Rüstzeug haben, sich selbst zu entwickeln und auf diese Weise auch die Gesellschaft mitzugestalten.
In engen Hinterzimmern und bescheidenen Vereinslokalen werden Bildungsvereine gegründet – auch von Arbeitern! Man lernt Deutsch, Geschichte, Mathematik und andere Fächer, man liest gemeinsam Werke wichtiger Autoren, diskutiert politische Fragen–– einfach um sich selbst und die Welt besser zu verstehen.
Bald entstehen die ersten Volkshochschulen, die allen Menschen den Zugang zu beruflichem Wissen und zu kultureller Bildung bieten sollten. Bildung für alle! Damit wurde Bildung zu einem demokratischen Versprechen.
Heute: Von der Förderung zur Unterforderung
Und heute? Heute scheint der Gedanke an die Selbst-Entwicklung des Menschen zurückgedrängt worden zu sein von einem sozialpädagogischen und paternalistischen Denken. Statt den Menschen zu fordern, will man ihn zunehmend beschützen: Vor Leistungsdruck. Vor Diskriminierung. Vor Überforderung. Und vor allem auch vor Ungleichheit, die sich aus der menschlichen Unterschiedlichkeit ergibt.
Dabei wird etwas Entscheidendes übersehen: Ein Anspruch führt nicht automatisch zu Ausgrenzung. Aber: Wer den anderen vor keine Herausforderung mehr stellt, traut ihm quasi nichts mehr zu.
Das Ergebnis dieser wohlmeinenden Absenkung: Ein Bildungssystem, das sich zunehmend scheut, klare Maßstäbe zu setzen. Prüfungen werden vereinfacht, Durchfallquoten gesenkt, Aufstiegshürden abgeschafft. Das klingt gerecht – dient aber vor allem dem Verbleib in einer Komfortzone, die das Gegenteil von Aufklärung bedeutet.
Ein Abitur mit Einser-Schnitt ist heute kein Beweis seltener oder besonderer Exzellenz mehr. Es ist häufig Ausdruck eines Systems, das Noten nivelliert, um niemanden zu verletzen.
Die Folge: Wenn alle mitreden – auch ohne Ahnung
Mit der Absenkung des Bildungsniveaus geht auch ein kultureller Wandel einher: Wissen verliert an Wert. Experten werden misstrauisch beäugt, vor allem wenn sie eine Position vertreten, die man nicht akzeptabel findet. Wissenschaft wird zur Meinungssache erklärt.
Wer auf differenzierte Argumentation, auf Fachliteratur oder auf Daten verweist, gilt schnell als elitär oder abgehoben. In vielen Debatten mischen sich Menschen ein, die kaum Grundlagenkenntnisse haben – aber umso fester von sich und ihrer Haltung überzeugt sind.
Das mag demokratisch wirken, ist aber fatal. Denn eine offene Gesellschaft lebt nicht nur davon, dass alle immer über alles mitreden – sondern sie lebt vor allem davon, dass sie lernfähig bleibt. Dass sie zwischen Wissen und Meinung unterscheidet. Und dass sie Bildung nicht als Bedrohung, sondern als Ressource begreift.
Niemand muss studiert oder promoviert sein, um mitreden zu dürfen. Aber man darf erwarten, dass sich Menschen Mühe geben, sich gründlicher mit einem Thema zu beschäftigen, um es zu verstehen. Das aber setzt eines voraus: Ein Bildungssystem und eine politische Kultur, die Leistung nicht als Verdacht begreift, sondern als Möglichkeit.
Echte Chancengleichheit bedeutet nicht, alle Unterschiede zu leugnen. Sondern jedem Menschen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen – auch wenn sie anstrengend ist. Vielleicht gerade dann.
Wieder mehr Aufklärung wagen!
Wir brauchen eine neue Bildungsbewegung – keine, die nur verwaltet, verteilt oder beruhigt, sondern die wieder aufrüttelt, fordert und begeistert.
Wir brauchen Schulen, die Leistung belohnen, statt sie zu relativieren. Lehrer, die mehr wissen als ihre Schüler. Und Politiker, die verstehen, dass Bildung kein Streichelzoo ist, sondern eine Werkstatt der Mündigkeit.
Was wir verloren haben, ist nicht nur ein paar Punkte im internationalen Vergleich. Wir haben ein Ideal verloren: den Glauben an den Menschen als denkendes, lernendes, wachsendes Wesen.
Es ist Zeit, den Geist der Aufklärung zurückzuholen.