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Wie Begriffe verwässert werden: Über „Integration“ und „sich integrieren“

Ein Meinungsbeitrag von unserer Generalsekretärin Petra Winkler

Geht es um den Umgang mit Zuwanderern und das Hineinwachsen in unsere Gesellschaft, so spielen seit vielen Jahren die Begriffe „Integration“ und „sich integrieren“ eine wichtige Rolle. Während noch vor wenigen Jahren vom Zuwanderer eine Bereitschaft zu Integration gefolgt von erkennbarer Integrationsleistung abverlangt wurde, um in der Gesellschaft als „integriert“ zu gelten, scheint hier in den letzten Jahrzehnten sehr viel abgeschliffen und verwässert worden zu sein. 

Was bedeutet Integration und wann ist diese Integration denn erreicht?

Aber was bedeutet „Integration“ oder „integrieren“ denn eigentlich? Interessanterweise gibt es zwei Richtungen: „Jemand integriert etwas“ bedeutet, jemand fügt oder gliedert etwas in ein größeres Ganzes ein. Und dann gibt es noch die Richtung „jemand integriert sich“, also jemand gliedert oder fügt sich selbst in ein größeres Ganzes ein. Das bedeutet im Klartext: Auf der einen Seite muss eine Gesellschaft bereit sein, Zuwanderer zu integrieren. Auf der anderen Seite müssen die Zuwanderer aber ebenfalls bereit sein, sich selbst in das größere Ganze zu integrieren. Diese Zweiseitigkeit zeigt: Integration kann keine Einbahnstraße sein und darf folglich auch nicht so propagiert werden. Die Aufnahmegesellschaft muss auf der einen Seite die Chance zur Integration geben – und die Zuwanderer auf der anderen Seite müssen diese Chancen auch nutzen. 

Nun ist die spannende Frage, wann denn die gewünschte Integration erreicht ist. Als im Jahr 2015 die Migration und Integration die Nachrichten dominierte, war oft zu lesen, wenn die Zuwanderer unsere Sprache erlernt, Wohnung und Arbeitsplatz gefunden haben, dann seien sie integriert. 

Ich war schon damals verwundert über dieses doch sehr simplifizierende Denken. Sprache, Wohnung und Arbeitsplatz reichen tatsächlich aus? Meine Verwunderung wurde noch größer, nachdem in einer Vielzahl von Berichten zu hören oder zu lesen war, dass es in den Schulen immer schwieriger wird für Mädchen aus einem gewissen Kulturkreis, wenn sie ohne Kopftuch in die Schule gehen. Da kommt schnell das Wort „Schlampe“ ins Spiel, nur weil ein Mädchen kein Kopftuch trägt. Welches heranwachsende Mädchen will sich so einen Vorwurf gefallen lassen? Also greift die eine oder andere dann doch zum Kopftuch – nicht aus Überzeugung, sondern wegen des Gruppendrucks. Und die Mehrheitsgesellschaft schaut mild lächelnd zu und freut sich, dass sie selbst so tolerant ist gegenüber diesen intoleranten Wertvorstellungen.

Wie konnte es zu dieser Fehlentwicklung kommen? Aus meiner Erfahrung hat das viel mit einem falschen Verständnis, mit Wegschauen und Nicht-sehen-Wollen zu tun.

Über die Rechte von Mädchen und Frauen

Während es in meiner Teenagerzeit allgemein in Deutschland üblich war, als Mädchen zu Freundinnen nach Hause zu gehen oder auch mit Freundinnen unterwegs zu sein, dürfen das einige Mädchen in Deutschland heutzutage nicht mehr. Für mich ist das kein Fortschritt, sondern ganz klar ein Rückschritt. Während in einem bestimmten Kulturkreis die Jungs draußen herumhängen, müssen die Mädchen aus strenggläubigen Familien zu Hause bleiben. Oder wenn, dann dürfen sie nur in Begleitung eines männlichen Verwandten raus. So wie es in der Religion schon seit mittelalterlicher Zeit gehandhabt wurde. 

Ich bin in der Zeit der 1970er Jahre groß geworden. Bei Urlauben im ländlichen Süden in der entfernteren Verwandtschaft habe ich damals noch einen Eindruck bekommen, wie streng die katholischen Moralvorstellungen vor meiner Zeit waren und vor allem diese Doppelmoral, wenn es um den ersten Freund oder die erste Freundin ging: Jungs durften Erfahrungen sammeln, Mädchen sollten das nicht. Dieses Messen mit zweierlei Maß fand ich nicht in Ordnung. Aber ich hatte den Eindruck, dass in der originär deutschen Gesellschaft im Lauf der Zeit eine gewisse Freiheit aufkam, und zwar sowohl für die Jungs als auch für die Mädchen (sofern sie jetzt nicht alle Tage jemand anderes mit in ihr Bett nahmen, zu viel Promiskuität kam dann doch nicht gut an). Auch wenn ich nie eine „richtige“ Feministin gewesen bin (das musste ich auch nicht, denn bis ich erwachsen war, hatten Frauen ja bereits die gleichen Rechte wie die Männer), war mir dennoch stets wichtig, gleichberechtigt mit Männern zu sein.

Statt Eingliederung in die Gesellschaft der Ruf nach Multikulti

Als ab den 1960er Jahren die ersten Familien der damals noch „Gastarbeiter“ genannten Industriearbeiter eintrafen, waren darunter sehr viele ältere Frauen ab 50, die Kopftuch trugen und beim Einkaufen immer folgsam vier oder fünf Schritte hinter ihrem Mann gingen. So ein unterwürfiges Verhalten hatte ich noch nicht einmal bei meinen Großeltern oder anderen alten Leuten beobachtet, da gingen die Frauen in der Regel (es mag Ausnahmen gegeben haben) selbstbewusst neben den Männern – das war eine Frage der Höflichkeit und Ehrerbietung den Frauen gegenüber. Das Verhalten der zugewanderten älteren Frauen wirkte auf mich daher in den 1970er und 1980er Jahren sehr seltsam und auch abstoßend. Aber wenigstens trugen die jüngeren Frauen kein Kopftuch und auch die Mädchen nicht. Und der allgemeine Tenor damals war, dass zwar die älteren Zuwanderer noch an ihren Traditionen festhielten, aber es gab die Vorstellung, die jüngeren Frauen würden sich an den Frauen in den mitteleuropäischen Aufnahmegesellschaften orientieren (eine Zuwanderung aus fremden Kulturen mit frauenunfreundlichen Traditionen gab es ja nicht nur in Deutschland, das war ja damals ein Phänomen, das auch andere Länder in West- und Mitteleuropa betraf). 

Dem war aber leider nicht so. Denn bald darauf haben linke Kräfte die zugewanderten Arbeiter und ihre Familien zu ihren neuen Schützlingen erkoren – diese spießigen deutschen Arbeiter und Angestellten, die ihren Traum vom Häuschen im Grünen für die Familie verwirklichen wollten, waren den links-akademischen Kreisen einfach nicht systemfeindlich genug geworden, mit denen war der erhoffte Systemwechsel nicht möglich. Nun galt es neue Opfer zu finden, die vor der Ausbeutung und Unterdrückung durch diese Industriegesellschaft geschützt werden müssten. Und so kam dann auch bald aus linken Kreisen der Gedanke auf, die Zuwanderer müssten sich gar nicht an die Aufnahmegesellschaft anpassen, auch weil eine angeblich drohende zweite Naziherrschaft nur durch eine möglichst multikulturelle Gesellschaft verhindert werden könne. 

Und während sich unsere Gesellschaft durchaus positiv weiterentwickelte (beispielsweise in der Toleranz gegenüber ledig zusammenlebenden oder homosexuellen Menschen, was ganz früher noch völlig tabu war), wurde im Lauf der Zeit immer deutlicher, dass die Entwicklung nicht mehr für alle Menschen hier gilt, insbesondere für Mädchen wurde es wieder schlimmer. In einem bestimmten Kulturkreis hier in Europa (nein, es sind nicht zugewanderte Inuit) sind Frauen nur Menschen zweiter Klasse, denen nicht die gleichen Rechte zustehen wie den Männern. Für mich ist das ein Skandal, ein Unding. Aber wenn man in links-grünen Kreise das Thema anspricht, kommt nur betretenes Schweigen. Wir wollen ja so tolerant sein. Da darf man dann auch nicht hinter die Kulissen schauen. Und schon gar nicht darf man hinterfragen, ob in dieser von Links-Grün erträumten Multikulti-Glückseligkeit die Rechte der zugewanderten Mädchen und Frauen nicht gänzlich unter den Tisch fallen. 

Natürlich wurden Hotlines und Anlaufstellen eingerichtet für Mädchen, die von Zwangsheirat bedroht sind. Natürlich gibt es Möglichkeiten, wie sich Mädchen gegen ein solches Unrecht wehren können. Aber für diese Mädchen und jungen Frauen bedeutet es auch immer einen totalen Bruch mit der Familie. Und wenn Kinder von klein auf eingetrichtert bekommen, dass die Familie und diese Ehre der Familie und der eigene Glaube viel wichtiger ist als das, was das Gesetz hier sagt, dann fällt es schwer, aus solchen (Denk)Strukturen auszubrechen. 

Während das Patriarchat in Deutschland im letzten halben Jahrhundert klar auf dem Rückzug war, haben wir vor lauter Kulturrelativismus ein neues Patriarchat entstehen lassen.

Während woke junge Menschen lautstark die patriarchalen Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft anprangern, denke ich mir, sie sollten sich lieber mal die patriarchalen Strukturen in manchen Parallelgesellschaften anschauen. Aber so etwas zu denken oder womöglich noch zu sagen, ist ja ein ganz großes Tabu. 

Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer zu sagen, die Integration in unsere Gesellschaft ist damit erledigt, dass jemand die Sprache lernt, eine Wohnung und einen Arbeitsplatz findet. Aus meiner Sicht fehlt bei diesem Verständnis von „Integration“ völlig darauf hinzuweisen, dass es bestimmte Werte gibt, die hier in diesem Land auch weiterhin Geltung haben sollten. Damit meine ich nicht, dass jeder Zuwanderer nun Weihnachten oder Ostern zu feiern hat. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten sehr säkular geworden, so dass Weihnachten und Ostern für viele nur noch freie Tage im Kalender sind, viele denken noch nicht einmal mehr über die Bedeutung nach. Und genau das ist der Punkt: auf der einen Seite sind wir als Gesellschaft sehr säkular geworden, auf der anderen Seite sollen wir uns einer Religiosität beugen, die einfach nicht zu einem modernen, fortschrittlichen, säkularen Land passt. Auf der einen Seite haben wir die Gleichberechtigung der Geschlechter, auf der anderen Seite dulden wir, dass Frauen unterdrückt und geknechtet leben müssen, weil es in manchen strenggläubigen Familien schon immer so üblich war. 

Links-rot-grün mit doppeltem Maßstab und Doppelmoral

Ich wundere mich über die Doppelmoral in links-grünen Kreisen, wo die Freiheit für das drölfzigste Geschlecht wie blöd gefeiert wird, während geflissentlich übersehen wird, dass es Freiheit für eines der zwei biologisch existierenden Geschlechter überhaupt nicht gibt. 

Wie kann es sein, dass in unserem Land zu viele Mädchen und junge Frauen in patriarchalischen Strukturen aufwachsen, wo nur der Wille des Vaters und der Brüder zählt? Und das wird noch gefeiert als Multikulti? Und im gleichen Atemzug wird der eigenen Gesellschaft dann strukturelle Unterdrückung vorgeworfen? Kann es sein, dass dieses Phänomen von Psychologen als „Projektion“ bezeichnet wird? Statt also den Kern des Problems zu benennen, wird das Problem gedanklich verlagert und zu einer Selbstanklage umfunktioniert?

Nein, die Gedankengänge der woken Welt sind für mich nicht logisch und nicht nachvollziehbar. Für mich ist eine Familie dann integriert, wenn die Töchter hier ebenso frei leben können wie die Töchter der Mehrheitsgesellschaft. Jedes Mädchen, egal welcher Herkunft, muss für sich entscheiden können, ob es nach der Schule eine Ausbildung machen oder studieren will. Jedes Mädchen muss die Freiheit haben, sich den Ehe- oder Lebenspartner selbst auszusuchen. Kein Mädchen darf zwangsverheiratet werden. Das Leben eines Menschen hat einen höheren Wert als so etwas wie eine Familienehre (und dabei geht es nicht allein um Femizide, von den so genannten Ehrenmorden sind beispielsweise auch homosexuelle Männer betroffen). 

Was Integration auch heißen sollte

Integration ist mehr als nur Spracherwerb, Wohnung und Arbeitsplatz. Integration heißt, auch die Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft zu akzeptieren. Diese Wertvorstellungen sind das Resultat einer langen Geschichte: Unsere Geschichte wurde geprägt von einem mittelalterlichen Glauben, sie wurde später geprägt von Zweifeln und der Entwicklung neuer Glaubensrichtungen, sie wurde vor allem geprägt von der Zeit der Aufklärung und der Trennung von Kirche und Staat sowie von dem Kampf für die Bürgerrechte, sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg geprägt von einer säkular und tolerant gewordenen Gesellschaft, in der die Politik ganz bestimmt nicht von religiösen Glaubensvorstellungen bestimmt wird. 

Diese offene Gesellschaft muss sich weiter entwickeln. Aber nicht, indem wir tolerieren oder gar akzeptieren, dass Frauen in manchen Teilen der Gesellschaft nur Menschen zweiter Klasse sind. Ein Maßstab für die Integration sollte daher die Frage sein, wie frei die Frauen und die Mädchen einer Familie in ihren Entscheidungen über ihre Lebensgestaltung sein dürfen. Vielleicht sind es neben den Frauenrechten und der Akzeptanz für die Gleichberechtigung der Geschlechter auch die Toleranz für individuelle Lebensweisen, die den Prüfstein bilden für eine gelungene Integration.

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